Topophobie – Der lächelnde Tanzbär

Auf einmal machte es „Klick“ und die Show ging los. Das ist wie, wenn man den Fehler gemacht hat, sich in die Achterbahn zu trauen, vor der man am meisten Angst hat: Die Sicherheitsbügel drücken dich an deinen Sitz und die Fahrt geht los. Es gibt kein zurück, auch, wenn du wieder aussteigen willst. Es geht nicht. Du kannst dich nicht einmal umdrehen. Die Zeit wird immer abstrakter: zunächst kommt es dir alles wie eine Ewigkeit vor, danach rast die Situation an dir vorbei und eigentlich ist alles, was du wahrnimmst nur noch die Aufregung. Das Adrenalin, das durch deinen Körper pumpt lässt dich vergessen, wie es sich überhaupt anfühlt, auf festem Boden zu stehen. Man möchte schreien, aber es funktioniert nicht. Die Kehle ist wie zugeschnürt. Schweiß tritt aus. Alles verkrampft.

Ich stand neben mir. Sah zu, wie die Finger über die Tastatur huschten, zitternd, unkontrolliert, mit feinen, winzigen Schweißtropfen. Nathan, der Neue. Der begabte Musiker. Ich beneidete ihn. Schon immer wurde ihm zugesprochen, er hätte eine große Begabung. Er sei etwas ganz Besonderes. So talentiert. Für Großes Vorbestimmt. Hm. Hat er sich da gerade verspielt? Es konnte doch nicht sein, dass sich dieser grandiose Pianist mit seinen Zauberhänden gerade einen Fehler erlaubt hat. Dieses Wort – „Fehler“, es dürfte ihm ja überhaupt ein Fremdwort sein. Nein, nein, Nathan, deiner einer verspielt sich nicht. Spiel weiter. Lass dich nicht von russischen Wunderkindern und internationalen Berühmtheiten einschüchtern. Du gehörst dazu. Das hat man ja damals auch immer gesagt. Halte diese Finger in Bewegung. Ich fragte mich, was wohl passieren würde, wenn sie auf einmal damit aufhören? So ein schnelles Lied… und das Klavier klingt dabei so voll und tragend. So verantwortungsvoll, dieses Lied als Pianist zu begleiten, nicht wahr? Was wäre nur, wenn…

Für den Bruchteil einer Sekunde hörte ich auf zu spielen, dann gelang es mir irgendwie wieder Besitz von meinem Körper zu ergreifen. Ich jagte dem verlorenen Akkord hinterher, wie ein dicker Schuljunge dem Schulbus hinterherrennt, der schon längst abgefahren ist. Richard warf mir einen Blick zu, er war momentan selbst nicht am Zug und konnte sich daher den Luxus leisten, mich intensiv anzusehen und sich mit Zeige- und Mittelfinger auf die Augen zu deuten.
„Fick dich…“, murmelte ich leise und versuchte, wieder den Anschluss an die Band zu bekommen und ignorierte sein demonstratives Hochziehen der Augenbrauen. Dachte der Idiot tatsächlich, ich passte nicht richtig auf und verspielte mich deshalb? Ich passe zu sehr auf, verdammt, das war doch das Problem!
Endlich wurde die Aufmerksamkeit von mir gerissen, als Manni mit einem Trompetensolo die Blicke der Zuschauer und die verdammten Belichtung auf sich zog. Ich war am überlegen, einen Anfall vorzugaukeln, um die Ausrede zu haben, ich hätte wegen gesundheitlichen Gründen nicht mehr richtig spielen können, aber um mir ein stabiles Lügennetzwerk aufzubauen, dafür hatte ich gerade nicht die Möglichkeit. Zu sehr wurde meine Konzentration beansprucht.
„Es geht um die Musik!“, hörte ich Manni sagen. „Die Leute wollen einfach nur gute Musik hören!“
„Und nicht dein beschissenes, unkontrolliertes Geklimper“, ergänzte Tillmann.
„Reiß dich zusammen!“, forderte mich Richard auf. „Du hast mit neun Jahren ein Konzert gegeben, was ist bloß mit dir passiert, dass du jetzt alles vergeigst?“
„Keine Ahnung“, flüsterte ich. „Vielleicht bin ich einfach nicht der, für den ihr mich haltet?“
„Sei nicht so negativ!“, schimpfte Nayara. „Du bist so eine Heulsuse. Du könntest auf der ganzen Welt auftreten, solch ein guter Pianist bist du, aber du glaubst einfach nur nicht an dich!“
„Stimmt!“, pflichtete ihr Richard bei. „Wenn du an dich glaubst, dann kannst du alles schaffen!“
„So ein dummes Gelaber…“, knurrte ich und blätterte hastig um.
„Das sagst du dir!“, widersprach Tillmann. „Das sagst du dir, um zu verbergen, dass an dir einfach so viel Talent, so viel Potential flöten geht!“

Ich schüttelte den Kopf, Nayara verschwand und der Rest der Band befand sich wieder einige Meter von mir entfernt, spielte gemeinsam mit mir I’ve Got You Under My Skin. Endlich eine Nummer, in der ich mich ein wenig zurücklehnen konnte. Während des Stückes verzog Richard mir gegenüber wieder seine seltsamen Fratzen, rollte wie ein Besessener mit seinen Augen und erst, als wir im Medley zum Song Angel Eyes übergingen, verstand ich endlich, was er mir die ganze Zeit sagen wollte. Sein tolles Motivationstraining mit dem sich gegenseitig anstarren. Damit er hinterher nicht sagen konnte: „Hättest du dich an meinen Ratschlag gehalten, hättest du nicht so scheiße gespielt“, seufzte ich und sah ins Publikum. Ich erschrak, als ich feststellte, dass die Leute tatsächlich mich, mich direkt ansahen. Ein älterer Mann sah mich müde an und zog an seiner Pfeife. Ich lächelte, er stieß eine Rauchwolke aus, verzog aber keine Miene. Ich sah zu seiner Nebensitzerin, die etwas genau so trübsinnig und gelangweilt dreinblickte. Ich kam mir unglaublich dämlich vor, sie anzulächeln, noch mehr, als sie daraufhin nur genervt zur Seite sah.
Im Nachhinein muss ich sagen, dass es tatsächlich eine gewisse positive Ablenkung gab, nach einem „Blickkontaktpartner“ zu suchen, war ich doch tatsächlich nicht mehr so sehr auf mich fixiert. Es entstand auch keine Kommunikation, eher die Beobachtung, dass uns die Wenigsten tatsächlich zuhörten. Ich wusste nicht, ob ich darüber empört sein sollte oder mich freuen wollte. Schließlich blieben meine Augen auf dem tiefen Ausschnitt einer attraktiven, jungen Brünette liegen und ich verspielte mich kurz, als ich registrierte, dass sie meinen Blick bereits bemerkt hatte. Anhand ihres Lächelns schien sie das jedoch eher zu amüsieren. Ich wusste nicht, woher mein Gesicht die Kapazität dazu nahm, noch mehr Blut aufzunehmen, jedenfalls errötete ich noch mehr und zwang mich dazu, zurückzulächeln und den Blickkontakt zu halten.

Es ist seltsam, das Ding mit den Blicken. Ich habe mich nie wohl dabei gefühlt, anderen Leuten lange in die Augen zu sehen, fühle ich mich dabei doch so, als seien sie wie die Türe zur Seele. Und in meine Seele will ich nicht jeden blicken lassen. Man fühlt sich nackt, angreifbar und dieses Gefühl war in diesem Moment das letzte, das ich gebrauchen konnte, so freundlich und gutmütig die Dame auch schauen mochte. Es wurde anstrengender und vor allem befremdlicher, je länger ich den Blickkontakt hielt und ich brach ihn schließlich mit einem Schaudern ab. Glücklicherweise lief unser Auftritt mittlerweile lange genug, dass ich mich an den Stresszustand des Vorspiels einigermaßen gewöhnt hatte und ich sprach mir immer wieder zu, dass jetzt nicht mehr schief laufen konnte. Ich ertappte mich hin und wieder dabei, der jungen Dame Blicke zu zuwerfen und verfluchte Richard innerlich für diesen bescheuerten Ratschlag. Das war ganz mies. Das brachte mich komplett aus dem Konzept, wobei man sagen musste, noch mehr. Ich hatte aufgehört, die Fehler zu zählen, machte mir bereits zwischen den Liedern Gedanken dazu, wie ich mich am besten bei der Band entschuldigen könne für all die Schnitzer, die ich mir am Abend geleistet hatte und versuchte mich mit meiner Beobachtung zu trösten, dass es keine Sau interessierte, was wir hier fabrizierten. Fast keine Sau. Die wenigen Leute, die doch zuhörten, machten mich um so nervöser. Und ich sollte gerade diese Personen nicht ansehen. Ich merkte, dass Richard recht hatte: Mit den Augen konnte man in der Tat viel kommunizieren – aber das war zu viel für mich. Ich konnte mich nicht auch noch darauf konzentrieren. Ich bündelte all meine Willenskraft, dieses beschissene Konzert zu Ende zu bringen.

Endlich war es soweit. Ich konnte nicht verstehen, warum der Rest der Band so strahlte, so zufrieden aussah, selbst Tillmann. Aber das gehörte wohl zu dem Teil der Show, den ich noch nicht drauf hatte und wohl nie drauf haben würde: professionell zu wirken. Immer den Gewinner raushängen zu lassen. Wir verbeugten uns gemeinsam und sowohl Richard als auch Manni riefen mehrmals: „Danke!“, als hätte uns das Publikum einen riesigen Gefallen getan.
Der Applaus war kaum verklangen, da huschte ich bereits von der Bühne, direkt auf das Büffet zu und schnappte mir etwas Fingerfood. Ich wollte so schnell wie möglich verschwinden, wusste aber, dass ich definitiv noch etwas essen sollte, wenn ich morgen nochmal die Kraft für einen weiteren solchen Spießrutenlauf aufbringen wollte. Natürlich interessierte sich im selben Moment, als ich die Bühne verließ wieder niemand für mich. Auf einmal war ich wieder der unscheinbare Typ, der gar nicht in die feine Menge passt. Ausgrenzung. Der Tanzbär ist auch nur dann interessant, wenn er tanzt. Wenn er sich unnatürlich bewegt, ganz wider seiner Natur, weil er dann so furchtbar seltsam anmutet. Sobald er sich wieder im Käfig befindet, will niemand etwas von ihm wissen. War schon immer so, wird immer so sein. Bevor ich mich ins innere des Hotels begab, warf ich nochmal einen Blick in die Richtung der jungen Frau, die mich zuvor angelächelt hat. Tatsächlich sah sie mich auch in just diesem Moment an und lächelte immer noch. Unheimlich, dachte ich mir. Und unangenehm. Kann man sich nicht mal unbeobachtet am Büffettisch bedienen? Bevor sie noch auf den Gedanken kommen sollte, mich zu ihr herüber zu winken, verschwand ich mit meiner Ausbeute. Selbst jetzt, am ersten Tag, habe ich genug von anderen Menschen gehabt.

Wie erleichtert ich war, als ich das einsame, große Zimmer betrat. Erschöpft ließ ich mich auf dem Einzelbett nieder. Manni durfte heute Nacht woanders schlafen. Mir doch egal. Ich stopfte mir das Essen in den Mund und musste beinahe weinen, als ich voller Ekel bemerkte, dass sich in dem Mürbeteig eine Schnittlauch-Quark-Füllung befand. Ich hasse Schnittlauch. Ich fuhr mir mit meinen Händen durch die Haare und schüttelte verständnislos den Kopf. Warum konnte nicht einmal etwas in meinem Leben so laufen, wie es eigentlich laufen sollte? Von allen Füllungen ausgerechnet Schnittlauch…

Hier weiterlesen: Idiotie ist relativ

4 Antworten auf „Topophobie – Der lächelnde Tanzbär

  1. Wie Nat mit seinen Augen durchs Publikum wandert, ist sehr schön beschrieben. Auch die Tanzbär-Metapher gefiel mir gut. Und erst der Schnittlauch zum Schluss 🙂
    Kleinigkeiten:
    „Die Sicherheitsbügel …“ (wieder nach Doppelpunkt groß, wenn vollständiger Satz.)
    Das Adrenalin, das durch (ohne Doppel-S)
    Ich jagte dem verlorenen Akkord hinterher, wie ein dicker Schuljunge dem Schulbus hinterherrennt, der schon längst abgefahren ist. (Toller Vergleich)
    in der Tat viel kommunizieren, aber das war zu viel für mich. (Da würde ich vor das aber kein Komma, sondern einen Gedankenstrich setzten. Dadurch wird die Wiederholung von „viel“ zu einer Betonung. Dafür vorher ein Doppelpunt dass Richard recht hatte: Mit den Augen konnte man …)

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    1. All die Anfängerfehler… ich sollte mir beim Korrigieren mehr Zeit lassen. Wie immer vielen Dank für deine hilfreichen Korrekturen (auch für den vorigen Abschnitt). Tatsächlich war ich selbst nicht sonderlich zufrieden mit beiden Beiträgen, weshalb es mich umso mehr freut, dass sie wohl doch nicht all zu schlecht ankommen.
      Das sind wieder so Momente, in denen ich erleichtert bin, dass ich all das doch im Internet teile, sonst würde mir die Motivation so schnell flöten gehen…

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  2. Da kommt eine Menge Gelassenheit durch, besonders am Anfang vom Text. Ich will das jetzt nicht analysieren :), aber ich finde, es steht ihm gut und tut ihm auch gut. Zumal er sich damit auch mehr zutraut. …die Zeit wird abstrakt… und besonders : halte diese Finger in Bewegung. Das gefällt mir sehr gut! Dieses Formulieren ist etwas, was ich in den vorherigen Kapiteln vermisst habe. Jene Art der Leichtigkeit. Diese Unaufgeregtheit. Du weißt, dass Du formulieren kannst. Vielleicht macht Dich das machmals zu … bemüht. So wirkt es auf mich. Zu viel Fleisch. Dieses Kapitel finde definitiv am besten.
    Weiter so! (Oje, jetzt kommen die Phrasen…)
    Liebe Grüße, Julia

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    1. Solche Kommentare sind Gold wert. Tatsächlich habe ich beobachtet, dass ich hauptsächlich dann positives Feedback bekomme, wenn ich weniger beim Schreiben nachdenke. Mal ganz blöd gesagt: wenn ich mir weniger mühe gebe. Deshalb ist deine Wortwahl („bemüht“) wohl recht zutreffend.

      Ich weiß jetzt bloß nicht so recht, was ich davon halten soll 😀
      Einerseits sollte mich das ja entspannen, ganz im Sinne von: „Nunja, dann brauchst du dich nicht mehr so sehr anstrengen!“, aber andererseits, ganz ehrlich? Ich habe mich bei diesem und dem letzten Kapitel von allen am ehesten noch an die Tastatur kämpfen müssen, mit dem Gedanken: „Jetzt schreib endlich wieder weiter, auch wenn du gar keinen Bock drauf hast!“
      Ganz seltsam. Mal weiter beobachten. Zumindest, bis es dann ins Ausland geht und ich dann ohnehin nicht mehr weiterschreiben kann.

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